Rezension zu „DENKSTEIN. ZWANGSLÄUFIG“

Gymnasium Gars
Unter-, Mittel- und Oberstufentheatergruppe; Theaterlehrer: Inga Hauser, Stephan Jahn

Stefan und Anna. Zwei junge Menschen in einem bayerischen Dorf verlieben sich ineinander. Davon könnten unzählige Erzählungen, Romane, Theaterstücke handeln. Junges Glück, vielleicht ein paar Neider im Dorf, aber am Ende siegt die große Liebe. Ein bisschen Kitsch, ein bisschen Gefühlsduselei. Dahoam is Dahoam.
In der Geschichte von Stefan und Anna, die von den Theatergruppen des Gymnasiums Gars unter dem Titel „Denkstein. Zwangsläufig“ erzählt wird, endet die Liebe mit Tod und KZ-Haft. Sie spielt in der NS-Zeit im Dorf Gallenbach und sie ist wahr. Heimatgeschichte wird zum Theaterstück: Recherchen vor Ort und Gespräche mit Zeitzeugen haben Theaterlehrerin Inga Hauser und ihre Gruppen von der 6. bis zur 12. Jahrgangsstufe dermaßen beeindruckt, dass sie den historischen Fall des polnischen Zwangsarbeiters Stefan Duda und des Bauernmädchens Anna aus Gallenbach zu „ihrem“ Fall gemacht haben. Und so erzählen sie eine Geschichte, die nicht 1945 auf grausame Weise endet, sondern sich in Form eines Gedenksteins bis in die Gegenwart hinein auswirkt. Diese Virulenz des Vergangenen im kleinen Nachbardorf, die ausstrahlt hinein in die regionale Presse und die Menschen in und um den Marktflecken Gars am Inn erneut gefangen nimmt, wird auch im Theatersaal in Schwabach spürbar, wo es immer wieder Momente intensivster Berührung zu erleben gibt.
Auf der Bühne wird eine Geschichte erzählt. Zu dieser Erzählung gehören nicht nur die Fabel (oder der Plot), sondern auch andere wesentliche Basisfaktoren: Sprache, Spiel, Bilder, Kostüme, Töne. Was zunächst so selbstverständlich scheint, gewinnt seine Besonderheit durch gemeinsame Motive, die all diese Elemente durchziehen und damit zu einer untrennbaren Einheit bündeln.
Kargheit und Ruhe bestimmen das Spiel und die Bühne. Bierbänke sind an den drei Bühnenseiten aufgestellt und dienen den etwa 30 Spielenden als Sitzgelegenheiten. Höchste Konzentration strahlen diese Sitzenden meist aus und lenken damit automatisch den Fokus des Zuschauers auf das Geschehen in der Bühnenmitte. Gleichzeitig bilden sie aber auch eine dörfliche Beobachtungsgesellschaft, welche die bisweilen sehr intimen Zweier- oder Dreierszenen, die Verhandlungen um Liebe und Tod, die von den Handelnden im Bewusstsein strengster Verschwiegenheit und Vertrautheit geführt werden, zu einem Geschehen in obszöner Öffentlichkeit erniedrigen. Die Dorfbewohner sind überall dabei, wissen alles, sagen nichts, schauen nur zu. Ein stimmiges, ergreifendes Bild für das Dorf der Vergangenheit ebenso wie für die vernetzte und globalisierte Gesellschaft der Gegenwart. Welcher Raum bleibt für das Individuum, die Vertrautheit, die Intimität?
Ein weiteres Motiv, die Reduktion, zeigt sich vor allem in der Abwesenheit von Bühnenelementen und Requisiten sowie der Konzentration auf pantomimisches Spiel. Die Arbeitswerkzeuge, die Kreide des Lehrers, das Spielzeug der Kinder werden der Fantasie des Zuschauers geschenkt; die arbeitenden Körper, der hilflose Lehrer, der erstarrte Vater, das sind die dazugehörigen Bilder, die eindrucksvoll, manchmal sogar schmerzlich lang und überdeutlich, präsentiert werden. Hinzu kommt der extrem verkürzte, im Dialekt gesprochene, präzise intonierte Text. Einen Höhepunkt dieser Verdichtung stellt der Moment dar, in dem Stefan seiner Anna ihrer beiden Zukunftsaussichten in gebrochenem Deutsch schildert: „Du KZ. Ich Kopf ab.“
Schließlich und vor allem bestimmt die Langsamkeit die Inszenierung und fordert von den Akteuren höchste Konzentration. Ruhe, Kraft und Emotion werden bis zur letzten dramaturgischen Möglichkeit zelebriert. Dadurch entwickelt sich eine fast meditative Stimmung im Saal, die viele der Besucher gleichzeitig schmerzt und beeindruckt und dem Stück zu einer ausdrucksstarken, bewegenden Intensität verhilft.
Die der Handlungszeit angenäherten Kostüme, die nach historischen Gesichtspunkten ausgewählten Musikeinspieler sowie die Rede-Texte aus dem Off betonen die Verortung in der Vergangenheit. Den Gegenwartsbezug stellen ein live zur Gitarre gesungenes Lied sowie die letzte Szene her. Der Gedenkstein steht nun in der Bühnenmitte, die Spieler versammeln sich in moderner Alltagskleidung gewandet um ihn und die aktuelle Diskussion um seine Aufstellung beginnt. Dabei bedienen sich die verwendeten Texte aus den Argumenten der tatsächlichen Gemeinderatssitzung. Einerseits wird die Diskrepanz deutlich: Die Stilisierung der Vergangenheit trifft auf die banalen Alltagsphrasen der Gegenwart. Andererseits ist man erstaunt: Wie sich die Zeiten trotz ihrer Unterschiede doch gleichen!
„Denkstein“ liege nahe am „Geschichtskitsch“, bemerkte ein kritischer Zuschauer nach der Vorstellung. Aber man kann auch eine gehörige Menge Gesellschaftskritik in dieser Inszenierung finden: Die offene Schuldfrage, die aus vielerlei Gründen nicht geklärt werden kann oder soll. Das Kippen sozialer Ordnungen und Verlässlichkeiten beim Anwenden politischen oder existentiellen Drucks. Die einerseits schützende Gesellschaft, die aber andererseits auch bereit ist, dafür jedes Opfer zu akzeptieren. Und – damit wird „Denkstein“ zum aktuellsten Stück des Festivals – die immerwährende Angst vor dem Fremden, die vor nichts und niemandem Halt macht und deshalb zwanghaft auf den Weg zur Entmenschlichung führt.
Die Gruppe aus Gars zeigt, wie nahe die Stoffe liegen können, die uns wichtig sein sollten. Die eigenständige und eigenwillige Form der Aneignung und Bearbeitung bietet ein intensives, an die eigenen Grenzen und Begrenztheiten führendes Theaterstück, das bei vielen Zuschauern einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben dürfte.

(Rudi Stangl)