Die Magie von Taizé
Es ist Samstagmorgen in der letzten Sommerferienwoche, 7:30 Uhr, wir, neun Schülerinnen und Schüler und eine Lehrerin, stehen am Münchner Hauptbahnhof. Allesamt bewaffnet mit Koffer oder großen Taschen und offensichtlich übermüdet. Die Reise geht nach Taizé, mit dem Bus. Nachdem wir in den Bus eingestiegen sind, erwartet uns eine zwölfstündige Fahrt, samt Zwangsaufenthalt in Karlsruhe. Als wir endlich um halb acht abends in Taizé ankommen, sind wir alle froh, die Fahrt überstanden zu haben. Gott sei Dank, der Bus wurde langsam unbequem. Gleichzeitig stellt sich aber ein Gefühl der Spannung und der Neugierde ein, denn niemand, ausgenommen Frau Gierse, weiß so recht, was uns an diesem Ort wirklich erwartet. Nachdem wir eine grobe Einführung erhalten haben und uns unsere Schlafplätze zugeteilt wurden, geht es in den Abendgottesdienst, in die Kerzennacht, wie jeden Samstag in Taizé. Beim Betreten der Kirche fällt einem schon etwas Außergewöhnliches auf, die Kirche hat kaum Bänke, geschweige denn Stühle. Es sitzen einfach gefühlt 800 Leute in verschiedendsten Posen auf dem Boden und stimmen gerade ein Lied an, als wir hereinkommen. Man bekommt sofort Gänsehaut bei dieser Stimmung. Außerdem fällt auch auf, dass hier die Gottesdienste ganz anderes gefeiert werden als im heimischen Oberbayern. Es wird kaum gebetet im klassischen Sinne, sondern einfach nur gesungen, aber es macht keinen Unterschied. Im Gegenteil, jeder findet es schön. Ziemlich am Ende des Gottesdienstes werden dann endlich die Kerzen entzündet. Jeder zündet seine Kerze an der des Nachbarn an und das Singen geht weiter. Als sich die Brüder von Taizé erheben, ist die Gebetszeit beendet. Das bedeutet Essen für die Neuen, also uns. Viel haben wir über das Essen in Taizé gehört. Man bekommt nur einen Löffel und sonst kein Besteck und es schmeckt besser, als es aussieht. Dies stellte sich als wahr heraus. Jedoch selbst bei der Essensausgabe fällt etwas auf: Die Menschen hier sind viel freundlicher und offener als zuhause. Nun gehen wir gestärkt noch zum Partypunkt von Taizé, ein überdachter Platz mit ein paar Bänken, wobei sitzen tut hier niemand, alle tanzen und singen, es spielt eine südamerikanische Gruppe. Komisch, alle sind hier in Abschiedsstimmung, doch für uns beginnt gerade das Abenteuer Taizé…
Am nächsten Morgen geht es in die Kirche, wie zukünftig jeden Morgen, Mittag und Abend. Anschließend gibt es Frühstück. Baguette, Butter und Marmelade, kein Messer, kein sonstiges Besteck. Beim gemeinsamen Essen in der Gruppe wird anfangs leicht fragend geguckt, aber schnell verbreitet sich Einfallsreichtum und so hat zum Schluss jeder etwas gegessen. Nach Freizeit am Vormittag und dem Mittagessen und Gebet werden wir zur Arbeit gerufen. Unwissend wie wir waren, eilten wir gleich hin. Die Arbeit, Toiletten putzen. Jippie! Wie zukünftig jeden Tag, aber das wussten wir an dieser Stelle noch nicht. Gespannt auf die Arbeit machen wir uns auf dem Weg zu unseren Arbeitsplätzen. Doch seltsamer Weise macht das Toilettenputzen Spaß in Taizé, es hilft einfach jeder mit und zusammen hat man auch noch Freude dabei, was bestimmt auch am „Dirty Toilet“-Song lag. Nach getaner Arbeit haben wir wieder frei und warten auf das Abendessen und das Gebet. Der erste Tag geht zuende.
Nach der üblichen Routine am nächsten Morgen werden wir von Frau Gierse auf unsere Bibelgruppen aufmerksam gemacht. „Bibelgruppen? Was ist denn das? Und vor allem wie wird es?“, denken sich die Schüler und dann beginnen sie auch schon. Pünktlich werden wir alle 15- und 16-Jährigen von einem Bruder empfangen. Unsere älteren Gruppenmitglieder bekommen ein separates Programm.Wir werden zufällig in Gruppen eingeteilt und sollen in unseren „Bibelgruppen“ Gespräche untereinander führen. Das Besondere dabei: Alle sind wildfremde Menschen, die wir noch nie gesehen haben. Auch andere Nationalitäten sind dabei, dies macht die Geschichte noch spannender. Nach der Vorstellung geht es an unseren ersten Bibeltext. Jedoch wird dieser nicht stupide interpretiert und analysiert, sondern auf eine ganz eigene Art und Weise besprochen, jeder in den folgenden Tagen anders. Und immer findet man einen Bezug zu sich selbst. Auch dies macht sehr viel Spaß und in Verknüpfung mit der Tatsache, dass wir nicht nur Deutsche sind, wird das Ganze sogar kulturell ziemlich interessant. Nach diesem Programmpunkt beginnt wieder die Routine des Vortags. Jedoch jeden Tag irgendwie anders als am Vortag. Die gleichen Aufgaben, jedoch mit anderen Personen, bringen sehr viel Abwechslung in den Alltag von Taizé. Eines fällt uns an diesem Tag noch ganz besonders auf. Man kann in Taizé nie einsam sein. Die Menschen in Taizé sind so aufgeschlossen, freundlich und aufmerksam, dass man immer wieder irgendwo eine Bekanntschaft macht oder in spontane Gruppenumarmungen verwickelt wird. Die folgenden Tage vergehen viel zu schnell und man findet jeden Tag neue Freunde und Beschäftigungen in der Freizeit. Schneller als gedacht, viel zu schnell, wie wir alle finden, kommt der Tag der Abreise, beziehungsweise der Tag davor. Es ist wieder Samstag. Am Sonntagmorgen werden wir Taizé verlassen. Am Samstagabend sitzen wir wieder in der Kirche. Es ist wieder Kerzennacht, wie jeden Samstag. Diesmal haben wir jedoch ein anderes Gefühl. Jeder ist etwas sentimental, ein Hauch von Traurigkeit hängt in der Luft. Jeder weiß, bald ist der Abschied da und der Alltag zuhause beginnt wieder. Ein viel traurigerer Punkt ist aber, dass wir uns auch von unseren neugewonnenen Freunden verabschieden müssen. Nach der Kirche bleiben wir länger sitzen als sonst. In Stille, nur mit Gesang im Hintergrund, verabschieden wir uns schonmal von Taizé und seiner Magie. Danach geht es, wie am Ankunftssamstag, zum Partypunkt von Taizé, jeder tanzt, lacht und singt. Doch als die ersten Busse einfahren, beginnt wieder die Phase der Verabschiedung. Wir verabschieden unsere holländischen Freunde. Ein mancher weint sogar. Anschließend geht es ins Bett, unsere letzte Nacht in Taizé. Am nächsten Morgen, nach der Messe, stehen auch wir am Bus und verabschieden uns vom Rest und auch hier fließen Tränen. Viele vereinbaren Treffen und weiter Fahrten nach Taizé. Jeder will diese Magie noch einmal erleben. Nach elf Stunden Busfahrt stehen wir wieder am Münchner Hauptbahnhof. Neun Schülerinnen und Schüler und eine Lehrerin, mit Koffern und Taschen bewaffnet. Alle sind traurig und froh zugleich. Traurig, weil die Magie von Taizé zuhause kaum zu erleben ist, und froh, weil es jetzt endlich wieder nach Hause geht zu unseren Familien und Freunden und weil wir wieder richtiges Besteck zum Essen bekommen…
Michael Kleiner, Q11