Zeitreise in das besetzte Polen
von Bruno Münch
Mit einem erschütternden Stück Zeitgeschichte konfrontiert wurden knapp 300 Schüler der 9.-11. Jahrgangsstufe des Gymnasiums. Zeitzeuge Natan Grossmann (92), Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz – Birkenau, der seine Familie durch den Holocaust verloren hat, berichtete aus seinem Leben, das zusätzlich durch den Film „Linie 41“ von Tanja Cummings (D, 2015) dokumentiert wurde.
Zu Recht wies Geschichtslehrer Martin Göller zu Beginn die Schüler darauf hin, dass sie die vielleicht letzte Schülergeneration seien, die überhaupt noch Gelegenheit hätte, aus dem Mund eines Überlebenden etwas über Holocaust und NS-Gewaltherrschaft zu erfahren. Sichtlich konzentriert und beeindruckt folgten denn auch die Schüler der filmischen Dokumentation, und ihr anhaltendes Interesse führte dazu, dass der Zeitrahmen für das Gespräch mit Natan Grossmann sogar weit überschritten wurde.
Unter dem Leitsatz „Es ist da etwas geschehen, mit dem wir alle nicht mehr fertig werden“ dokumentiert der Film die Umstände, unter denen zeitweise etwa 185.000 Menschen, Juden aus Polen und Westeuropa sowie „Zigeuner“, in menschenverachtenden Verhältnissen im Ghetto „Litzmannstadt“, dem heutigen Łódź, leben mussten. In dem nach Warschau zweitgrößten Ghetto in Polen starben etwa 45.000 Menschen an Hunger, Krankheiten, Gewaltanwendung oder durch Suizid. Weitere wurden zu Tausenden in das nahe gelegene Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) und nach Auschwitz – Birkenau deportiert und ermordet. Nur etwa 850 Bewohner, die als „Aufräumkommando“ das Ghetto auflösen sollten, wurden 1945 schließlich von der Sowjetarmee befreit.
Neben dem Protagonisten Natan Grossmann, der mit seiner Familie Jahre seiner Kindheit im Ghetto verbrachte, kamen im Film auch andere Zeitzeugen zu Wort, darunter Jens-Jürgen Ventzki, der Sohn des damaligen deutschen Bürgermeisters des germanisierten „Litzmannstadt im Warthegau“ Werner Ventzki, der nach dem Krieg Oberregierungsrat in Bonn war und gegen den strafrechtliche Ermittlungen 1960 eingestellt wurden. Gleichwohl ist der Sohn, den heute eine Freundschaft mit Natan Grossmann verbindet und der nicht zur Veranstaltung anreisen konnte, der Überzeugung, dass sein Vater vielfache Schuld auf sich geladen und sich bis zu seinem Tod nicht seiner Verantwortung gestellt habe. Vielmehr sei er wie Exekutionskommandos, die Unschuldige erschossen hätten, ein Täter gewesen, der „alles gewusst, alles gewollt und alles unterstützt“ habe. Als Bürgermeister unterstand ihm der später hingerichtete Ghetto –Leiter Hans Biebow. Seinem Vater sei z.B. bewusst gewesen, so Ventzki, dass Kleider von Ermordeten verteilt wurden. Er habe auch die Zustände im Ghetto kennen müssen, z.B. dass Menschen im eigens eingerichteten „Zigeunerghetto“ in Ermangelung von Essgeschirr aus ihren Mützen essen mussten. Auch habe er die „Germanisierung“ der Stadt, in der z.B. Polen „eingedeutscht“ wurden, vorangetrieben und noch bis 1945 akribisch dokumentieren lassen. Er habe ein zwiespältiges Bild von seinem Vater, so Ventzki im Film: Einerseits sei er ein Verbrecher gewesen, der das Ghetto „rücksichtslos vollstopfen“ ließ und der geglaubt haben will, dass die Deportation von Alten, Kranken und Kindern in „Erholungsgebiete“ erfolgt sei, andererseits sei er aber auch der brave Familienvater gewesen, der mit seinen Kindern „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt habe. An seiner Mutter befremdet habe ihn, dass sie im Zusammenhang von NS-konformem Verhalten den Begriff „hochanständig“ verwendet habe und damit eine Formulierung Himmlers, der in seiner Posener Rede vor SS-Leuten NS-Tätern bescheinigte, „anständig geblieben zu sein“, noch gesteigert habe.
Besonders eindrucksvoll für die Schüler waren die Bilder der heutigen Straßenbahn von Łódź, die damals als Linie 41 das Ghetto in zwei Teile teilte, die durch eine Holzbrücke verbunden waren. Bei Todesstrafe war es verboten, die Absperrungen zu überwinden und das Ghetto zu verlassen. Parallelwelten stießen aufeinander: Gutbürgerliche Stadtbewohner durchquerten das Ghetto in der verriegelten Straßenbahn, z.B. auf dem Weg ins Wochenende. Das tägliche Elend der Ghettobewohner musste ihnen vor Augen gewesen sein. Zu erzwungenen Aufenthalten kam es, wenn sich z.B. wieder ein Selbstmörder von der Holzbrücke auf die Fahrbahn geworfen hatte.
Nach dem Film bekannte Natan Grossmann, der neben den Eltern sechs Onkel und zwanzig Cousinen durch den Holocaust verloren hat: „Meine geistige Heimat ist Israel, meine zweite Heimat ist München. Ich bin ein „Zweidrittel-Bayer“. Bayern ist ein wunderbares Land.“ Im Gespräch mit den Schülern war es ihm wichtig, klarzustellen, dass er ihrer und der Generation vorher keine Schuld an den geschehenen Verbrechen zuschreibe. Er betonte, dass das NS-Regime nicht nur einen Holocaust gegen die Juden, sondern auch quasi gegen das eigene Volk betrieben habe: gegen Pazifisten, Sinti, Zeugen Jehovas, politische Gegner und gegen Millionen von Kriegsopfern. Gebannt folgten die Schüler seinen Erzählungen über seine frühen Jahre im Ghetto, über seinen Vater, für den er kein Kaddisch (Totengebet) sprechen konnte und dessen Grabstätte er nicht kenne, von seiner Mutter, die sich für ihn aufgeopfert habe und von seinem älteren Bruder Baer, der vermutlich im Auftrag einer Widerstandsgruppe unterwegs war und vielleicht in einem der „Gaskammer-Lkws“ ermordet wurde.
Angesprochen auf die tieferen Ursachen des Holocaust kam Grossmann auf politische Konstellationen, die sich nach dem ersten Weltkrieg ergeben hätten, zu sprechen, auf den Antisemitismus im damaligen Europa und auch auf den von ihm schon im Kindesalter erfahrenen christlichen Antijudaismus, der die Juden des „Gottesmords“ beschuldigte und 2000 Jahre lang an einer Kollektivschuld festgehalten habe. Er bezeichnete sich als Atheisten, bekannte aber: „Ich bin ein großer Sympathisant von Christus und ich schätze den polnischen Papst Johannes Paul II. sehr dafür, dass er die Juden als ‚ältere Brüder‘ der Christen bezeichnet hat“.
Auf Bitten hin trug Grossmann abschließend unter großem Beifall das jiddische Lied „Spiel, Klezmer, spiel…“ vor, und mit interessierten Schülern, darunter einige, die wie er des Polnischen mächtig waren, wurde das Gespräch noch bis auf den Schulhof fortgesetzt.
(25. Juli 2019 – B. Münch)